Mitternachtssonne

Jürgen Diebäcker

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Mittsommernacht in Nordnorwegen

Wo die Sonne
zwei Monate lang
nicht untergeht​

Mitternacht ist vorbei, schon fünf Minuten vor eins, und – wir haben ja Sommerzeit – die Sonne nähert sich ihrem niedrigsten Stand. Ihr gelbroter Ball liegt dabei nicht wie etwa in Mittelnorwegen auf oder knapp über dem nördlichen Horizont, sondern sie steht über einem Schatten werfenden Berg an einer Inselspitze im Norden. Blende 8 und 1/125stel Sekunde für 200-ASA-Film zeigt der Belichtungsmesser, gegenlichtbereinigt. Die Vögel in den Krüppel-birken rechter Hand, die dort einen ehemaligen Bunker der deutschen Wehrmachtsbesatzer überwuchert haben, zwitschern ohne jede Schlafpause. Und unten auf dem Felsen, den sacht die auflaufende Flut umspült, nimmt Gudrun ein mitternächtliches Sonnenbad - zugegeben: im Anorak, nicht im Badeanzug, denn die Nacht hat nur 15 Grad.

Zehntausende deutscher Touristen zieht es im Sommer nordwärts, soweit die Busse auf Norwegen-Rundfahrt rollen oder Motorräder und Wohnmobile tragen. Ab Oslo sind das rund 2500 Kilometer auf der Europastraße 6 bis zur mittlerweile durch einen Straßentunnel ans Festland angeschlossenen Insel Mageroya. Schlappe 30 Kilometer noch, dann ist es erreicht: das Nordkap, Ziel deutscher Sehnsüchte – ein kahler, 307 Meter hoher Felsen auf 71 Grad, 10 Minuten und 21 Sekunden nördlicher Breite, samt „Nordland-Halle“ (falls es regnet, stürmt oder schneit), teuren Souvenir-Läden und Restaurants sowie einem mäßigen, oft überlaufenen Campingplatz. Und es ist keineswegs „Europas nördlichster Punkt“, wie alle glauben, die dort hinbrausen, um nachts die Sonne scheinen zu sehen. Denn eigentlich gehört das Nordkap nach Knivskjellodden, deutlich nördlicher (71 Grad, 11 Minuten, 8 Sekunden) gelegen, aber eben schlechter erreichbar. Doch wen stört das? Hauptsache, dagewesen.

Seit jeher fasziniert der hohe Norden speziell die Deutschen, und das hat mit der Magie des nächtlichen Lichts zu tun. 77 Tage lang, von Mitte Mai bis Ende Juli, geht die Sonne am Nordkap nicht unter – falls Sturmwolken sie nicht ganztägig verbergen, was vor allem im Juli häufig der Fall ist. Wer das norwegische Wetter kennt, reist deshalb im kühleren, aber son-nenbeständigeren Juni in die Provinzen Troms oder Finnmark, wählt eines der „Hytter“ genannten Ferienhäuser, die hier meist teurer sind als im Fjordland des Südwestens, meidet den Autostrom der E 6, wo immer es geht – und findet, etwa auf der Tromsö vorgelagerten Insel Senja, Ruhe und Reiz des Mittsommernacht-Lebens, wie die Einheimischen es genießen: Spätabends nach dem Ende des Fernsehprogramms ein Stündchen Spaziergang im Sonnenschein oder ein Bier (zwei sind kaum bezahlbar) im Pub des nächsten Orts, der am Wochenende bis 4 Uhr morgens offen bleibt, weil um diese Jahreszeit Musik und Kneipenleben meist erst nach Mitternacht beginnen.

„Ja, vi elsker dette landet“ (Ja, wir lieben dieses Land), singen die Norweger in ihrer Hymne, und das gilt vor allem für „Sankthansaften“, die Zeit der Mittsommernacht. In Skrolsvik auf Senja, wo er sein Leben lang Heilbutte filettiert und eingesalzen hat, fährt Edgar Torgersen dann seine Hüttengäste nachts, wenn die Sonne scheint, aufs Meer, weil der Blick von dort aus genau nach Norden am schönsten ist. Vom 21. Mai bis zum 22. Juli geht die Sonne hier, 300 Kilometer nördlich des Polarkreises, nicht unter: volles Tageslicht in klaren Nächten – wie an Juli-Abenden südeuropäischer Urlaubsküsten abends um acht - , bei Bewölkung gleichbleibende Helligkeit, ob es nun 18, 24 oder 8 Uhr morgens ist.

„Edgar, wie schläft man in diesen hellen Nächten ein?“ fragt der Urlauber, der sich am Abend drei Stunden bewegt und eine Schubkarre voll Fisch gefangen hat, aber nicht müde geworden ist. Der 67-Jährige rät: „Ein dunkles Stück Stoff innen vors Schlafzimmer-Fenster – das genügt.“ Es reicht tatsächlich, obwohl unser Zeitgefühl sich ein paar Tage lang schwer tut. A-bends schauen wir immer wieder auf die Uhr, denn nichts deutet darauf hin, dass es später wird („Nachbars Kinder spielen immer noch draußen“). Morgens der Blick zum abgeschalteten Wecker: Schon Zeit fürs Frühstück? Schließlich lernen wir: Ins Bett erst, wenn wir - wann auch immer - müde sind; und Frühstückszeit ist, wenn der Magen rumort.

Ja, räumt Edgar schließlich ein, es gebe auch Einheimische mit Schlafproblemen – „aber im Winter“. Vom 21. November bis zum 22. Januar bleibt es in Skrolsvik stockfinster, ebenfalls rund um die Uhr. Das fehlende Tageslicht bringe dann die innere Uhr manches Landsmannes so durcheinander, dass er nach Tromsö zur Dr. Arnoldus Schytte-Blix ins Institut für Arktische Biologie müsse. Der verordnet dann keine chemischen Einschlafhilfen, sondern als gängiges Rezept viel Bewegung und täglich eine Stunde Sonnenbank-Bestrahlung.

Depressionen? Alkohol-Probleme? „Heute kaum noch“, versichert Edgar. Für den Fortgang des möglichst normalen Lebens in der winterlichen Polarnacht sei viel getan worden: Elektrizität (aus Wasserkraft) gibt es satt in Nordnorwegen – und sie ist so billig, dass die Straßen-beleuchtung sogar in den hellen Sommernächten brennt. Kinos und Sporthallen zuhauf, vom Schnee geräumte Straßen und gewalzte Flutlicht-Skipisten, umfangreiches Kultur- und Unterhaltungsangebot sorgen für Abwechslung in jener Jahreszeit, die hier früher vornehmlich dem Konsum des sommers Selbstgebrannten diente.

Als wir uns auf dem Rückweg über die Inselgruppen der Vesteralen und Lofoten vom endlosen Tag wieder an dämmerige Nächte gewöhnen, taucht die gängige Urlaubs-Abschlussfrage auf: Noch ein Mal Nordnorwegen, und womöglich im Winter? Ja, auch wir lieben dieses Land, aber vor allem im Sommer. Urlaub im Dunkeln? Das dann lieber doch nicht! JÜRGEN DIEBÄCKER

Dazu 3 Bilder

Bild Nr. 1:
300 Kilometer nördlich des Polarkreises, 55 Minuten nach Mitternacht
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Bild Nr. 3:
Drei Stunden gefischt
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Und ich armer Mensch "muß" auch noch von Ende Mai bis Ende September in Tromsø arbeiten...

Wie soll man da denn vernünftig schlafen können? :D
 
Einfach nur * Schön *

splitti :baby:
 
Hallo Jürgen
Willst uns wieder mal Quälen. Ganz toller Bericht und sehr schöne Bilder.
 
Bin hin und her gerissen, da muß ich hin, vielen Dank Jürgen.
 
Na, dann mal auf gen Norden!

@Alexander Perte
Willst Du etwa bedauert werden? Tromsö ist doch mit die schönste Stadt Norwegens, zumal um diese Jahreszeit. Und ich habe gelesen, das Nachtleben sei ganz schön rege... Vielleicht hindert Dich das mehr am Schlafen als die Mitternachtssonne.
 
Hei Jürgen!

Kennst du den Begriff "Ironie" :D?

Ich hab mir ja mit voller Absicht einen Job in Tromsø gesucht, und ich freue mich schon sehr darauf! Ich glaube, daß ich erst ende Juli oder Anfang August das erste Mal die Sonne untergehen sehen werde.

Und das Nachtleben der nördlichsten Universitätsstadt der Welt gilt als legendär! Ebenso wie die Damen dort oben...

Und was das schlafen betrifft: 8) verdunkeln und gut is!
 
@Alexander
I c h hatte mir schon gedacht, dass Du's ironisch meintest, war mir aber nicht sicher, ob's jeder mitbekommen würde. (Mit Ironie sind wir Journalisten immer sehr vorsichtig, weil man immer auch Leser hat, die's nicht kapieren - daher.)

Dann verdunkle mal schön...
 
Moin Jürgen,

starke Schreibe :baby: Ich habe ein paar Jährchen in NordNorge rumgemacht
und hatte nach anfänglichen Einschlaf-Problemen immer eine schwarze Plastikfolie
und Klebeband dabei. Winters hatte ich persönlich nie Probleme, war aber echt schockiert, was für Unmengen an Kaffee und Schnappes da über die Küchentische
ging.
 
@Heilbutt
Unerschöpflich ist meine Archiv-Rubrik "Norwegen" nicht, aber sie enthält einiges, was man in fünf Jahren als freier Journalist so produziert hat. Zwei, drei Sachen sind noch bei (zahlenden) Kunden unterwegs, aber sobald es geht, stelle ich sie ein. Das Thema Nachtleben ist aber nicht dabei, wohl noch etwas zum Norden.

@mirco1
Deine Erfahrungen kann ich nachvollziehen. Im Übrigen: Lass' Dich nicht im Schlupfloch erwischen, mancher sieht's auch im Dunkeln.
 
sauber, sauber - allererste Sahne-Bericht :baby: :baby: :baby:
wer Norwegen nicht kennt, wird spätestens nach deinem Bericht gierig auf Norge werden - wetten? 8)


…Schließlich lernen wir: Ins Bett erst, wenn wir - wann auch immer - müde sind; und Frühstückszeit ist, wenn der Magen rumort…
:D :D :D - kenn ich irgendwo her… 8)

Gruß aus HH

udo
 
Einfach nur goil dein bericht :baby: :baby: und die Bilders nur schön ein glück das es nur noch 29 tage bis norge sind, zwar nicht soweit oben aber dafür Norge ;)

langsam arbeit Mann sich nach oben :D :D ;)
 
Herliche Bilder
Einfach nur KLASSE.
Kommt man ins träumen
DANKE :baby:
 
Also wenn ich mir die Bilder ansehe und den Bericht durchlese, dann halt ich es gar nicht mehr aus bis es endlich September wird und ich Richtung Norge starten kann.

War bisher 3 mal auf Senja, jedesmal ins Skrolsvik. Das kann man nur empfehlen. Das erste Mal bin ich zwecks Heilbutt raufgefahren. War leider nix mit Heilbutt, dafür gab es aber jede Menge Seewölfe (bis 12 kg) und Dorsche um die 8-10 Kg.
Ist wirklich traumhaft, ebenso ist auch das Heilbutt Museum in Skrolsvik zum empfehlen. Da hat man danach erst ne Vorstellung welche gewaltigen Butts rumschwimmen bzw. welche Knochenarbeit es früher war sie zu fangen.

Ich möchte spätestens in den nächsten 2-3 Jahren wieder mal nach Senja... *träum*

mfg
Seewolf
 
@seewolf
Freut mich, dass es Dir in Skrolsvik gefallen und Du gut gefangen hast! Apropos Heilbutt-Museum: Da hast Du wohl Edgar, den Schlüsselverwahrer und früheren Filetierer, kennengelernt. Lebt er noch? Müsste heute etwa 73 Jahre alt sein. Aber Leute, die ihr Leben lang so hart gearbeitet haben, sind ja zäh'...

Gute Reise gen Norden im September! Falls Du in Skrolsvik vorbeikommst, grüße Edgar. Vielleicht komm' ich nächstes Jahr auch mal wieder hin.

Zum Heilbutt-Fangen: Tröste Dich, ich hab' auch keinen bekommen. Aber sonst jede Menge Fisch.
 
Edgar, den Schlüsselverwahrer, hab ich in Skrolsvik schon gesehen, kennengelernt wäre zuviel gesagt.
Wie gesagt, bis ich wiedermal genügend Zeit habe, dass ich bis Senja komme, vergehen sicher einige Jahre. Aber ich weiß nur das ich nicht das letzte mal dort war.

Zum Thema Heilbutt: Ich hoffe das ich heuer im September im Hjorundfjord endlich mal Glück habe und meinen ersten Heilbutt erwische.
 
@seewolf
:baby: :baby: :baby:

Wird hoffentlich klappen mit Deinem Heilbutt. Wenn es soweit ist: Ruhe bewahren! Und falls es ein großer ist: Nichts riskieren, seinen Kopf möglichst unter Wasser lassen und ihm außenbords einen Kiemenbogen durchschneiden - oder harpunieren. Setz' Dein Gaff erst ein, wenn er möglichst ausgeblutet ist.

Alles Gute!
 
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